Wie jeden Abend nach meiner Arbeit als Kommissar im Polizeirevier begab ich mich auf meinen nächtlichen Spaziergang durch die New Yorker Innenstadt. Es war fürchterlich kalt. Ich durchquerte den Central Park. Alles war düster, nur einige wenige Stellen waren von hohen, etwas alt aussehenden Straßenlaternen beleuchtet.

Alles schien wie immer, dennoch fühlte ich, dass etwas nicht stimmte.

Ich war alleine, weit und breit keine Menschenseele zu entdecken. Um diese Uhrzeit begab sich kein Normalsterblicher freiwillig in den Park.

Ich ging an einem der kleinen Seen vorbei, als mich plötzlich ein mulmiges Gefühl erfasste. Ich blickte mich um und sah am Ufer des Wassers eine menschliche Gestalt. Ich näherte mich und stellte mit Erschrecken fest, dass es der leblose Körper eines jungen Mannes war. Mitten im Central Park eine Leiche!

Sein Name war Matthew Brown, so stand es im Personalausweis, den ich neben ihm in einer kleinen dunkelblauen Brieftasche fand. Er war 21 Jahre alt. Auf dem Ausweisbild hatte er dunkelbraune, lockige Haare und smaragdgrüne Augen. Meinen Beobachtungen nach müsste er Sportler gewesen sein. Er trug ein lilafarbenes Footballshirt, die Farben des Footballteams der NYU, mit der Nummer 10. Seinem Studentenausweis zu Folge war er Teil des Teams und studierte an dieser Universität.

Das zuvor noch violette T-Shirt war nun eher rot. Alles voller Blut. An seiner Brust waren deutliche Einstichwunden erkennbar.

Ich griff zu meinem Handy und verständigte meinen Kollegen Blake. Ich hasste dieses Gerät und jegliche Anrufe von ihm. Es hatte die unnütze Eigenschaft, einen zu jeder Uhrzeit aus seinem wohlverdienten Schlaf zu reißen.

Ich hasste nicht nur Handys, nein, auch tote Leute. Am Ufer eines Sees liegend, nachts um zwölf, durch mehrere Messerstiche zu sterben, muss fürchterlich sein. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, für diese Menschen Gerechtigkeit zu fordern.

Ich stand für einige Minuten da, war wie gelähmt. Ich weiß nicht, ob es nur wegen der bitteren Kälte war, oder weil ich gerade den leblosen Körper eines jungen, attraktiven Mannes vor mir sah.

Blake traf einige Minuten später ein. Ich konnte seinen schockierten Gesichtsausdruck trotz der Dunkelheit erkennen. Ich wies ihn auf die kleine Brieftasche hin, die direkt neben der Leiche lag. Sie war der einzige persönliche Gegenstand, den wir in seiner unmittelbaren Nähe entdeckten.

Solange die Spurensicherung noch nicht eingetroffen war, machten wir uns auf die Suche nach weiteren Objekten. Heutzutage trägt doch jeder Jugendliche ein Mobilgerät mit sich. Wir suchten in kleinen kahlen, aber auch größeren, dicht bewachsenen Büschen. Unter Bäumen, auf dem vom Tau noch nassen Gras, bis Blake ein Handy fand. Er machte es an. Auf dem Hintergrundbild war das Mordopfer, umarmt von einer hübschen Frau. Sie hatte blondes Haar und trug ebenfalls ein Footballshirt mit der Aufschrift „Brown“. Ihr Name war Olivia – das verrieten uns die unzähligen verpassten Anrufe auf dem Sperrbildschirm. Die letzte Datei war eine Sprachaufnahme von 23:36 Uhr, vermutlich kurz vor dem Mord aufgenommen.

Ich drückte auf den erdigen Bildschirm, um die Audioaufnahme zu starten. Man hörte rascheln, offensichtlich war Matthew auf der Flucht. Eine kurze Zeit das Schnaufen des Opfers, schließlich eine raue, tiefe Männerstimme. Hektisches Gerede. Abgehackte Drohungen, dann wieder erneutes Schweigen.

Plötzliche Schreie ertönten aus den schlammigen Lautsprechern. Kurz danach Röcheln und sich immer weiter entfernende Schritte.

Matthew hatte instinktiv als Beweis für den Angriff die Audioaufnahmetaste gedrückt. Ob er da schon wusste, welch schreckliches Schicksal ihn erwartete?

Ich stand nun schon eine Stunde an diesem furchtbaren Tatort. Es wurde von Minute zu Minute kälter, ich konnte meinen Blick nicht von dem Jungen lassen. Andauernd fragte ich mich, welches Motiv der Mörder hatte, einen solch unschuldig aussehenden Mann zu töten.

Kurz vor eins trat endlich die Spurensicherung ein. Wir erzählten ihnen von dem Handy und der Tonaufnahme. Den Tatort sperrten sie mit gelben Absperrtape ab, untersuchten jeden Millimeter. Stunden vergingen, das Gras taute und die Morgenröte erschien hinter den Bäumen. Wir hatten jeden Busch und Baum durchsucht, doch wir waren erfolglos.

Ich entschloss mich nach Hause zu gehen – ich brauchte Zeit für mich.

In meinem gemütlichen Apartment in Manhattan angekommen, versuchte ich zu frühstücken, doch ich bekam nicht einen Bissen hinunter. Dieser arme Student ging mir nicht aus dem Kopf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wir hatten etwas übersehen. Rastlos entschloss ich mich noch einmal in den Park zu gehen und alles bei Tageslicht abzusuchen. Ich ging zu dem See, an dem ich den von blutüberströmten Matthew gefunden hatte. Auf den ersten Blick sah alles so gewöhnlich aus, doch unweit des Ufers glänzte etwas. Ich zog Schuhe und Socken aus. Das Wasser war fürchterlich kalt. Schon nach einigen Sekunden spürte ich meine Beine nicht mehr, die eisige Kälte ließ mir das Blut in meinen Adern gefrieren. Doch das war mir egal. Ich zog den metallenen Gegenstand mit Handschuhen heraus und fand somit endlich die vermeintliche Mordwaffe – ein langes Küchenmesser mit hölzernem Griff. Sofort stieg ich in mein Auto und fuhr in das Polizeirevier. Dort angekommen eilte ich zu Blake. Gemeinsam brachten wir das Messer dem Labor, das brauchbare DNA-Spuren sicherstellen konnte.

Danach ging alles sehr schnell: die Datenbank spuckte den Namen Lucas Johnson aus. Er war ebenfalls 21 Jahre alt, Teil des Footballteams der NYU und stand schon früher mit dem Gesetz in Konflikt.

Nach einem stundenlangen Verhör brach er endlich sein Schweigen, als er die Memo-Aufnahme hörte. Das Mordmotiv? Neid. Lucas wollte, wie Matthew, Quarterback sein, doch hatte nie wirkliche Chancen seinen Rivalen zu übertreffen. Sein Traum war es, so zu sein wie sein Trainingspartner – dasselbe Ansehen, seine Freundin und Stellung im Footballteam. Wie tief diese Eifersucht bloß sitzen musste, um einen anderen zu töten? Darüber grübele ich immer noch nach und dies wird mich auch ein Leben lang begleiten.  

So endete dieser kühle Novemberabend für mich mit einer raschen Aufklärung, ein wenig Genugtuung, aber großem Wehmut ob dieser unnötig grausamen Tat.

Auch im Sommer, als die Enten fröhlich auf dem See rumplätscherten, Kinder voller Freude mit ihren Eltern picknickten, schaute ich immer wieder unweigerlich auf den Ort, an dem ich einst den leblosen Körper eines unschuldigen Jungen fand.

Smilla Bettinger, 9b