Vorbei, wieder einmal. Es ist geschafft. Nach langen 8 Jahren geht die Schulzeit zu Ende, mit dem erhofften Abschluss, dem Abitur. Abschiednehmen, was vielleicht ein wenig schwer fällt, gespannt sein auf einen Neuanfang, vielleicht etwas unsicher, all das kommt nun in wenigen Tagen zusammen. Lange Zeit habt ihr auf den Lebensabschnitt hingearbeitet, zum Teil mit großem Aufwand, nicht immer mit großer Begeisterung, weil es doch oft mühsam war, manchmal auch mit Ängsten verbunden. Ob es wohl klappt? Jetzt hat es geklappt, ihr könnt euch freuen, wenn ich euch heute die Zeugnisse im Beisein eurer Eltern und eurer Lehrer überreiche. Dazu darf ich alle Anwesenden herzlich hier im Schiller-Gymnasium begrüßen, zuerst und vor allem euch Abiturienten, Sie verehrte Eltern und auch meine Kolleginnen und Kollegen.
Freuen wir uns auf diesen Abend, den wir alle noch einmal gemeinsam verbringen wollen. Wie in jedem Jahr möchte ich vor der Überreichung der Zeugnisse noch ein paar Gedanken, wie sagt man so schön, loswerden, diese euch mit auf den Weg geben, in der Hoffnung, dass zumindest ein Teil davon nicht vergessen wird.
Eure Schulzeit ist nun also vorbei. In der Rückschau lässt sich jedes Jahr bei jedem Abiturjahrgang dasselbe feststellen: Es gab in den vielen Jahren viel Neues, oft Unverständliches, oft Spannendes, alles war selbstredend immer sehr wichtig, begleitet oft mit einem AHA-Gefühl, man fühlte sich gut, manchmal aber auch nicht, mit dem Ergebnis: Ich habe es nicht verstanden. In 8 Jahren Schule bei so vielen Fächern eigentlich normal.
Das Problem war nur, wie man damit umgehen musste. Die Angst, Fehler zu machen, vielleicht weniger wert zu sein, von verschiedenen Seiten Druck zu spüren, sich selbst Druck zu machen, war bei dem einen oder anderen von euch leider durchaus zu sehen, zu spüren. Die Frage, wie helfe ich mir selbst, was will ich eigentlich für mich und nicht für die anderen, blieb nicht selten ungelöst.
Die Furcht vor Fehlern wächst immer mehr, in einer Welt, die immer stärker perfektioniert wird, so scheint es allerdings oft nur. In einer digitalisierten Welt, die von uns erwartet, dass alles passt und sofort funktioniert, liefern wir uns aus, lassen uns bewerten, zuordnen, nummerieren und verschieben. Fehler werden da sofort registriert, Schwächen gespeichert und weitergegeben. In einer Welt, in der das Lügen und der Egoismus immer mehr zunehmen, in der Anstand und Benehmen gegenüber dem Mitmenschen abnehmen, in der Geld und Großartigkeit eine immer größere Rolle spielen zu Lasten von Menschen, die eigentlich Hilfe und Zuneigung brauchen.
Wir werden zum Spielball des Automatismus, da sind Fehler und Schwächen fehl am Platz. Samuel Beckett formulierte einmal: „Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuch es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.“ Verrückt, was soll ich damit anfangen? Ist Fehler machen sogar gut? Wir sind Menschen, es ist normal, selbstverständlich, eben menschlich, Fehler machen zu dürfen.
Wenn ihr jetzt einen neuen Lebensabschnitt beginnt, Studium, Ausbildung, Beruf, vielleicht Familie, dann müsst ihr lernen, wie man mit Fehlern umgehen muss. Akzeptieren, nicht aufgeben, weitermachen, an sich selbst glauben, aber auch für andere Verständnis zeigen und Kompromisse eingehen, niemals von oben herab, weil man besser ist, weniger Fehler macht als der andere, dem man das dann zeigen muss. Wir beobachten in Deutschland immer mehr, dass der, der aus der Reihe fällt, weil er anders ist, oft ausgemustert wird. In Casting-Shows im TV und wo sonst noch, z. B. in Unternehmen, Organisationen und Parteien geschieht das sehr häufig. Der Beginn des 21. Jahrhunderts wird geprägt von Menschenvermessung und dem Glauben an die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Menschen. Man ist dabei, eine Null-Fehler-Logik zu installieren, die mit Vorsorge und Risikoszenarien operiert, in der wir Menschen nur noch nervige Schwachstellen in einem ansonsten reibungslos funktionierenden System wären. Dagegen steht ein anderer Glaube, nämlich, dass der Fehler zu einem gelingenden Leben dazugehört. Wo Fehler gemacht werden, sind Menschen am Werk. Dies ist eine tröstliche Botschaft.
Was bedeutet dies für euch? Lasst euch nicht unterkriegen von Dogmen, vorgeschriebenen Mustern, die ihr unbedingt erfüllen müsst, um etwas wert zu sein. Lasst euch nicht manipulieren mit der Gefahr, euch selbst zu verlieren. Aber: Geht euren Weg konzentriert, mit Muße und Ruhe, nehmt euch selbst an und arbeitet an euch und für euch. Erfolg und innere Zufriedenheit im Leben, nicht selbstverständlich, aber möglich.
Was haben wir am Schiller-Gymnasium dafür getan in all den Jahren? Wir haben euch Wege gezeigt, oft miteinander gesprochen, auch etwas verlangt, euch angenommen und Verständnis gezeigt, vielleicht nicht jedes Mal, aber oft, selbst wenn es auch für uns nicht immer einfach war. Zuletzt haben wir euch bei eurem Abschluss unterstützt, auch für uns ein Lebensziel, auch deswegen sind wir Lehrer geworden, weil wir mit dazu beitragen wollen, Jahr für Jahr, dass ihr den Weg findet und geht, ihr und all die anderen vor euch und nach euch. Und dann hoffen wir, dass ihr es schafft und geschafft habt. Übrigens: Auch wir sind nicht fehlerlos und müssen damit leben.
Wenn ihr an eure Zeit hier zurückdenkt, bleiben hoffentlich auch neben den Belastungen schöne Erinnerungen haften. Zum Beispiel wenn ihr in den Pausen oder Freistunden gemütlich auf den blauen Bänken sitzen oder kurz um die Ecke beim Parkplatz einen Plausch mit Zigarettchen halten konntet, die Probleme der letzten oder kommenden Klausuren zur Sprache kamen, manchmal mit dem Blick zu meinem Fenster: Oh Gott, es hat gegongt, er guckt schon, schnell wieder rein. Tag für Tag, Woche für Woche.
Schule ist heute im ständigen Wechsel, voller Unruhe. Neue Fächer, neue Bildungspläne, G8 oder doch wieder G9. Vieles ist mehr als fragwürdig, vor allem G8. Hier wurde und wird der junge Mensch viel zu wenig berücksichtigt in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Aber die da draußen brauchen die Maschinen und wir sollen sie bieten, möglichst schnell, möglichst perfekt, möglichst kompetenzorientiert. Weniger vielleicht mit der Fähigkeit, ein Gedicht interpretieren zu können, das brauchen wir nicht, als mit den Knöpfen umzugehen, damit wir perfekte Automaten werden.
„Ich schau dir in die Augen Kleines“ – einer der berühmtesten Sätze der Filmgeschichte, aus der Schlussszene des Klassikers Casablanca. Wie weit schauen sich Menschen heute noch in die Augen, um Kontakt zu suchen. Der Blick nach unten schafft den Kontakt, oft fragwürdig, zwar einfacher und schneller, aber auch ärmer.
Ich kann im Fortschritt nicht immer einen Fortschritt für den Menschen sehen, manchmal sogar eher einen Schritt fort vom Menschen. Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Orientierungskompetenz, Handlungskompetenz, Menschen kommen in diesen Bildungsplänen nicht vor. Es dominieren die Passivkonstruktionen, die Kompetenzen sind die Subjekte, die Handlungsträger. Lehrer wissen nicht mehr, welche Inhalte sie lehren dürfen, die man behalten kann und soll, aber sie machen unablässig kompetent.
Ein Zeitungsprojekt wie z.B. „Jugend schreibt“ gibt es heute kaum noch, googlen und vergessen, das hat Zukunft. Universitäten und Ausbildungsbetriebe freuen sich darüber nicht. Grundwissen in allen Fächern, wozu, sind wir kompetent? Das klingt ernüchternd, aber man sollte darüber nachdenken, schon in der Schule. Unsere deutsche Sprache legt für diese Gedanken ein deutliches Zeugnis ab.
Der Umgang mit unserer Sprache wird immer schlechter: Anglizismen und Abkürzungen, unkorrekte Sätze, missverständliche Formulierungen sind an der Tagesordnung und tragen zur Verödung bei. Auch darauf solltet ihr bewusst achten und euch nicht vereinnahmen lassen. Vielleicht hilft hier in einer Mußestunde auch einmal die Literatur. Vielleicht habt ihr hier in der Schule ein klein wenig davon erfahren. Zu Beginn des Jahres beschäftigte sich der „Spiegel“ mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Alltag ohne Apps sei unvorstellbar geworden, für jede Lebenslage schlagen die kleinen Programme Lösungen vor, verändern sie Wahrnehmung und Welthaltung und verhindern persönliche Entwicklung. Kann der Mensch noch ohne Apps leben? Die große Hilfe: Wir verlaufen uns nicht mehr, machen keine Fehler mehr, werden nahezu „vermeintlich“ perfekt, jederzeit da. Verloren geht aber die Selbstreflektion, die bewusst erfahrene, auch mit Fehlern besetzte Selbstständigkeit.
Ein Student fragte vor kurzem einen Professor: „Warum sollen wir überhaupt noch zur Universität gehen?
Apps liefern uns doch alle Antworten, die wir brauchen.“ Die Antwort des Professors: „Apps liefern Antworten, aber nicht die entscheidenden. Keine App kann mir sagen, was der Sinn meines Lebens ist.“
Ein bekannter deutscher Psychologe, behauptet, dass der Mensch natürlicherweise mehreren Krisen ausgesetzt ist. Während einer dieser Krisen geht es um die Frage der Identitätssuche zwischen 17 und 21 Jahren: Wer will ich sein? Was will ich werden? Was ist mir wichtig im Leben? Wie denken andere über mich? Das also ist genau jetzt euer Alter und der Beginn eures neuen Lebensabschnittes.
Die Gefahr, die der Wissenschaftler sieht, liegt darin, und ich komme jetzt auf meinen Anfang zurück, dass die Sucht nach Perfektion und die Bestätigung möglichst von der ganzen Welt überhand nimmt. Viele Jugendliche scheinen die Problematik zu spüren, finden aber keinen Weg. Ich kann euch den Weg auch nicht zeigen, vor allem nicht an eurem letzten Schultag. Ich kann nur darauf hinweisen, dass ihr ihn bewusst selbst suchen und gehen müsst, dass ihr wisst, dass nur ihr ihn gehen könnt, so wie Kafka einmal gesagt hat: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Ich ergänze: Selbst geht, vielleicht mit einer guten Begleitung in eurem Leben.
Macht es gut, dankt allen, die euch bis hierher geholfen haben. Denkt an all diejenigen, die zu eurem erfüllten Leben beigetragen haben und noch tun werden. Vor allem auch eure Eltern.
Zum Schluss auch noch an sie zwei Gedanken. Es gehört zu den Aufgaben junger Menschen, das Nest zu verlassen und ihre Grenzen auszuloten. Und es ist Aufgabe der Erwachsenen, ihnen dabei genügend Freiraum zu geben, gleichzeitig Grenzen zu setzen und die richtige Balance zwischen Beschützen und Loslassen zu finden. Wir werden den jungen Menschen leichter mit liebevollem Verständnis begegnen, wenn wir uns erinnern, wie wir in ihrem Alter waren. Wie gnadenlos haben wir damals jede Schwäche eines Lehrers ausgenützt, so manche Eigenheit der Älteren lächerlich gemacht. Was wir ihnen alles verdanken, ist uns erst viel später bewusst geworden, und Fehler der anderen mit Nachsicht zu beurteilen, lernten wir erst, nachdem wir oft genug über unsere eigenen gestolpert waren. Wir sollten daher nie vergessen, wie auch wir selber einmal zwischen Leichtsinn und Schwermut geschwankt sind.
Solche Erinnerungen schenken uns nicht nur Gelassenheit, sondern auch Vertrauen in die Nachkommenden, wir alle werden daran wachsen und reifen. Unsere Aufgabe besteht darin zu erkennen, das uns etwas erfüllt, weil wir es selbst nun einmal so empfinden, und nicht, weil jemand anderer uns sagt, dass es erfüllend sei. In diesem Sinne wünsche ich euch Abiturienten und uns allen eine gute Zeit.
Noch ein Nachwort: Wir haben etwas gemeinsam: Das Ende und ein neuer Lebensabschnitt. Dazu ein kleines Gedicht am Schluss.
frei nach Kurt Tucholsky
Aus!
Einmal muss man auseinandergehen;
Einmal kann einer den andern nicht mehr verstehen –
Einmal gabelt sich jeder Weg –
und jeder geht allein –
Es gibt nur den Ablauf der Zeit.
Solche Straßen schneiden sich
in der Unendlichkeit.
Jeder trägt die Erinnerung
mit sich herum –
Etwas aber bleibt immer zurück.
Einmal hat es uns zusammengespült,
ihr habt euch erhitzt, seit zusammengeschmolzen, und dann erkühlt –
ihr wart unsere Kinder.
Nun entsteht ein neuer Mensch.
Ihr geht eurem kleinen Schicksal zu:
Leben ist Wandlung.
Jedes Ich sucht ein Du.
Jeder sucht seine Zukunft.
Und geht nun mit stockendem Fuß
Vorwärtsgerissen vom Willen,
vielleicht mit einem kleinen Gruß
In ein anderes Land.